„Homo homini lupus est“
Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf (Hobbes)
Dieser Gedanke verfolgt mich, seit ich in Holzen war. Warum? Versuch einer Antwort.
Vor meinem Besuch in Holzen wusste ich, was die sogenannten Erzieher an uns Kindern für Verbrechen begangen hatten (vgl. Erinnerungen an Holzen). Erschütternd war die Begegnung mit dem, was so viele Menschen vergessen wollen, was niedergerissen und von der Natur zurückerobert wurde – Waldidylle, unterlegt mit unsäglichem Schmerz unter dem alles überdeckenden Boden, dem gleichen Boden, der auch die Toten aus der Nazizeit zudeckt (vgl. Holzen, Kinderheim Ruebezahl, Geschichte des Heimes)
Aber auch konnte ich erfahren, dass die Heimleiterin von Holzen, Frau Leupold, die zwischen 1963 und 1972 ihr Regiment im Heim Rübezahl führte - die die Teuflin genannt wurde - mit der Schließung von Holzen und dem Wechsel nach Haus Haderode eine Wandlung durchlaufen haben soll. Vielleicht nicht gerade von Saulus zum Paulus, aber dennoch einen Wandel. Ich sprach einen Ehemaligen der berichtete, die Zeit in Haus Haderode sei seine beste Zeit gewesen. Natürlich ist so eine Aussage relativ und mag ebenso ein bedrückendes Licht auf das Leben des Mitmenschen werfen, aber dennoch, die Zeit wurde wertvoll erlebt – und das zählt für mich.
Das Menschenbild, oder besser Gesellschaftsbild von Thomas Hobbes (Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf) begründet u.a. hieraus die notwendige (rigide) Staatsmacht, die den Menschen nur zu bändigen vermag und die Konflikte nach außen gegen andere Staaten verlagert. Diese klare Staatsmacht mit seinen Normen und Instrumenten der Durchsetzung zähmt den Wolf. Wo sie fehlt, setzt sich der Wolf durch, beißt und erkämpft sich die Alpha-Position. Demnach wäre der Mensch schlimmer als ein Wolf zu bewerten, weil das was Menschen einander antun kein Tier vermag. Auch das an uns Geschehene war nicht animalisch sondern un-menschlich.
Der Staat, die Kirche, die Justiz, das Gesundheitssystem, alle haben in Holzen versagt. Der Un-Mensch im Menschen konnte seine Urstände feiern, exzessiv!
Wo warst Du, Mensch?
Dann ist aber etwas passiert.
Holzen wurde 1972 geschlossen. Das Heim lag abgelegen im Wald. Die Lehrer der Dorfschule haben wohl nicht nachgefragt. Die Heimleiterin saß im Gemeinderat, war abgesichert und angesehen. Ahnen wollte keiner etwas, was da im Wald oben passierte. Eine Wiederholung der Geschichte von Holzen (KZ, Zuchthauslager, vgl. Blog)?
Ehemalige erzählten, in Haus Haderode war es anders. Hier fragten Lehrer nach, warum die Kinder kein Pausenbrot mitbekamen, hier kam das Jugendamt und fragte nach, was mit dem Taschengeld sei, hier kamen Leute und fragten nach Kakerlaken und Mäusen.
Leider ist die Geschichte selten monokausal. Mehrere Sachen haben sich geändert. Die Heimrevolte war im Gang, Partizipation wurde zu einem der neuen Schlagwörter, mehr Demokratie wagen. Es hatte sich aber noch was geändert. Haus Haderode war stärker eingebunden, und zwar als Einrichtung. In Holzen war es allein die Person Leupold als Heimleiterin, von der gleich einer Despotin Wohl und Wehe der Kinder (und Mitarbeiterinnen) abhing. Mit anderen Worten: Die Kontrolle in Harderode hat hier wohl einen Menschen verändert, Kontrolle, die sich aus einem veränderten Menschenbild gespeist hat und unter der Frau Leupold sich wandeln musste oder gar wollte.
„homo homini lupus est, non homo, quom qualis sit, non novit.“
Übersetzt :
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch, wenn er nicht weiß, welcher Art [sein Gegenüber] ist.
Hier sind wir nun beim Originaltext des römischen Komödiendichters Maccius Plautus. Und wieder bekommt meine Betrachtung eine neue Dimension. Die Beziehung taucht auf, die – so möchte ich interpretieren – die Unmenschlichkeit verhindert oder doch zumindest dämpft. Entspricht doch diese Einsicht, die vielleicht 200 v.Ch. gewonnen wurde, heutiger Einsicht von Psychologen, dass sich das Täter-Opfer-Verhältnis in dem Moment wandelt, wenn der Täter sein Opfer als Individuum begreift.Somit fehlte nicht nur Kontrolle, sondern auch Begegnung, die vielleicht durch die Einbettung des Hauses Haderode, vielleicht auch seiner anderen Geschichte, eher möglich war. Der Mensch ist des anderen Menschen Wolf, wenn er hierfür den Raum erhält – kann es zumindest werden. Dies verantwortet dann der Mensch, der sich entscheidet Wolf zu sein und der, der ihn zum Wolf werden und ihn unbeaufsichtigt agieren lässt.
Nicht alle Heime waren so geführt wie das Heim Rübezahl in Holzen oder Freistatt und wie sie alle heißen. Nicht alle Erzieher wurden in den 50er und 60er Jahren zum Wolf, obwohl sie es hätten werden können. Somit darf Hobbes in seinem kausalen Denken widersprochen werden. Auch der Altruist wohnt dem Menschen inne. Wehe dem ehemaligen Heimkind aber, wenn sich dieser Mensch Heimleiter oder Mensch Erzieher zum Wolf - oder besser Unmensch - wandelte. Dann gab es kein Halten mehr! Es war nicht zum Aushalten!
Wir Kinder waren keine Individuen, sondern Heimkinder - anonymisiert, entindividualisiert, reduziert auf die Vision des zukünftigen Versagers oder Verbrechers. Dies ermöglichte, neben fehlender Kontrolle, erst die Demütigungen.
"Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein!"
Dieses Jesaja-Wort wurde nicht gelebt, es wurde mit Füßen getreten.
Versagt hat der Mensch der zum Unmensch wurde, versagt hat einmal
mehr die Kirche, die gleich den drei Affen wegschaute.
Mensch wo warst Du?
Jomi