Overblog
Edit post Folge diesem Blog Administration + Create my blog
5. Juni 2009 5 05 /06 /Juni /2009 21:35

„Homo homini lupus est“
Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf (Hobbes)


Dieser Gedanke verfolgt mich, seit ich in Holzen war. Warum? Versuch einer Antwort.

  Vor meinem Besuch in Holzen wusste ich, was die sogenannten Erzieher an uns Kindern für Verbrechen begangen hatten (vgl. Erinnerungen an Holzen). Erschütternd war die Begegnung mit dem, was so viele Menschen vergessen wollen, was niedergerissen und von der Natur zurückerobert wurde – Waldidylle, unterlegt mit unsäglichem Schmerz unter dem alles überdeckenden Boden, dem gleichen Boden, der auch die Toten aus der Nazizeit zudeckt (vgl.   Holzen, Kinderheim Ruebezahl, Geschichte des Heimes)

  Aber auch konnte ich erfahren, dass die Heimleiterin von Holzen, Frau Leupold, die zwischen 1963 und 1972 ihr Regiment im Heim Rübezahl führte - die die Teuflin genannt wurde - mit der Schließung von Holzen und dem Wechsel nach Haus Haderode eine Wandlung durchlaufen haben soll. Vielleicht nicht gerade von Saulus zum Paulus, aber dennoch einen Wandel. Ich sprach einen Ehemaligen der berichtete, die Zeit in Haus Haderode sei seine beste Zeit gewesen. Natürlich ist so eine Aussage relativ und mag ebenso ein bedrückendes Licht auf das Leben des Mitmenschen werfen, aber dennoch, die Zeit wurde wertvoll erlebt – und das zählt für mich.

  Das Menschenbild, oder besser Gesellschaftsbild von Thomas Hobbes (Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf) begründet u.a. hieraus die notwendige (rigide) Staatsmacht, die den Menschen nur zu bändigen vermag und die Konflikte nach außen gegen andere Staaten verlagert. Diese klare Staatsmacht mit seinen Normen und Instrumenten der Durchsetzung zähmt den Wolf. Wo sie fehlt, setzt sich der Wolf durch, beißt und erkämpft sich die Alpha-Position. Demnach wäre der Mensch schlimmer als ein Wolf zu bewerten, weil das was Menschen einander antun kein Tier vermag. Auch das an uns Geschehene war nicht animalisch sondern un-menschlich.

Der Staat, die Kirche, die Justiz, das Gesundheitssystem, alle haben in Holzen versagt. Der Un-Mensch im Menschen konnte seine Urstände feiern, exzessiv!

Wo warst Du, Mensch?

Dann ist aber etwas passiert. 
Holzen wurde 1972 geschlossen. Das Heim lag abgelegen im Wald. Die Lehrer der Dorfschule haben wohl nicht nachgefragt. Die Heimleiterin saß im Gemeinderat, war abgesichert und angesehen. Ahnen wollte keiner etwas, was da im Wald oben passierte. Eine Wiederholung der Geschichte von Holzen (KZ, Zuchthauslager, vgl. Blog)?

Ehemalige erzählten, in Haus Haderode war es anders. Hier fragten Lehrer nach, warum die Kinder kein Pausenbrot mitbekamen, hier kam das Jugendamt und fragte nach, was mit dem Taschengeld sei, hier kamen Leute und fragten nach Kakerlaken und Mäusen. 

  Leider ist die Geschichte selten monokausal. Mehrere Sachen haben sich geändert. Die Heimrevolte war im Gang, Partizipation wurde zu einem der neuen Schlagwörter, mehr Demokratie wagen. Es hatte sich aber noch was geändert. Haus Haderode war stärker eingebunden, und zwar als Einrichtung. In Holzen war es allein die Person Leupold als Heimleiterin, von der gleich einer Despotin Wohl und Wehe der Kinder (und Mitarbeiterinnen) abhing. Mit anderen Worten: Die Kontrolle in Harderode hat hier wohl einen Menschen verändert, Kontrolle, die sich aus einem veränderten Menschenbild gespeist hat und unter der Frau Leupold sich wandeln musste oder gar wollte.

„homo homini lupus est, non homo, quom qualis sit, non novit.“

Übersetzt :

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch, wenn er nicht weiß, welcher Art [sein Gegenüber] ist.

  Hier sind wir nun beim Originaltext des römischen Komödiendichters Maccius Plautus. Und wieder bekommt meine Betrachtung eine neue Dimension. Die Beziehung taucht auf, die – so möchte ich interpretieren – die Unmenschlichkeit verhindert oder doch zumindest dämpft. Entspricht doch diese Einsicht, die vielleicht 200 v.Ch. gewonnen wurde, heutiger Einsicht von Psychologen, dass sich das Täter-Opfer-Verhältnis in dem Moment wandelt, wenn der Täter sein Opfer als Individuum begreift.Somit fehlte nicht nur Kontrolle, sondern auch Begegnung, die vielleicht durch die Einbettung des
Hauses Haderode, vielleicht auch seiner anderen Geschichte, eher möglich war. Der Mensch ist des anderen Menschen Wolf, wenn er hierfür den Raum erhält – kann es zumindest werden. Dies verantwortet dann der Mensch, der sich entscheidet Wolf zu sein und der, der ihn zum Wolf werden und ihn unbeaufsichtigt agieren lässt.

Nicht alle Heime waren so geführt wie das Heim Rübezahl in Holzen oder Freistatt und wie sie alle heißen. Nicht alle Erzieher wurden in den 50er und 60er Jahren zum Wolf, obwohl sie es hätten werden können. Somit darf Hobbes in seinem kausalen Denken widersprochen werden. Auch der Altruist wohnt dem Menschen inne. Wehe dem ehemaligen Heimkind aber, wenn sich dieser Mensch Heimleiter oder Mensch Erzieher zum Wolf - oder besser Unmensch - wandelte. Dann gab es kein Halten mehr! Es war nicht zum Aushalten!


Wir Kinder waren keine Individuen, sondern Heimkinder - anonymisiert, entindividualisiert, reduziert auf die Vision des zukünftigen Versagers oder Verbrechers. Dies ermöglichte, neben fehlender Kontrolle, erst die Demütigungen.

"Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein!"
Dieses Jesaja-Wort wurde nicht gelebt, es wurde mit Füßen getreten.


Versagt hat der Mensch der zum Unmensch wurde, versagt hat einmal
mehr die Kirche, die gleich den drei Affen wegschaute.

Mensch wo warst Du?

Jomi


Diesen Post teilen
Repost0

Kommentare

B
<br /> Der Verfasser führt unter anderem aus:<br /> <br /> "Ich sprach (mit) eine(m) Ehemaligen(,) der berichtete, die Zeit in Haus Haderode sei seine beste Zeit gewesen. Natürlich ist so eine Aussage relativ und mag ebenso ein bedrückendes Licht auf das<br /> Leben des Mitmenschen werfen, aber dennoch, die Zeit wurde wertvoll erlebt – und das zählt für mich."<br /> <br /> Zu Recht weist der Verfasser auf die subjektive Wahrnehmung des Ehemaligen und somit auf die Relativität dieser Aussage hin. Als ehemaliges Heimkind des in Rede stehenden Kinderheimes ist diese<br /> Aussage unerträglich und von daher ist eine Relativierung dieser Aussage geboten.<br /> <br /> Das Kinderheim Haus Harderode war ein geschossenes System von Angst, Terror und Gewalt. Von diesem System konnten insbesondere auch die Kinder profitieren, die aufgrund ihres Geschlechtes bzw.<br /> ihres Lebensalters den anderen Heimkindern physisch überlegen waren. Diesem System war es immanent, dass die älteren Heimkinder ihre Überlegenheit zu ihrem persönlichen Vorteil gnadenlos ausgenutzt<br /> haben.<br /> <br /> Der zetierte Ehemalige kann von mir nicht zugeordnet werden. Indes kann aufgrund seiner zitierten Aussage davon ausgegangen werden, dass es sich bei ihn um einen der älteren Heimkinder handelt.<br /> Dieser Ehemalige wird in seinem Leben nie wieder eine solche Machtposition inne gehabt und ausgelebt haben, wie er sie während seiner Zeit im Kinderheim Haus Harderode hatte. In dieser Folge ist<br /> seine Wahrnehmung bezüglich des Kinderheimes Haus Harderode auf dem ersten Blick zwa nachvollziehbar; bei näherer Betrachtung aber auch erschütternd:<br /> <br /> In dem System Kinderheim Haus Harderode hat jedes Kind nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten eine Strategie entwickelt, damit es in diesem System möglichst schadlensfrei durchkommt. In diesem<br /> Sinne hat jedes Heimkind mal einem anderen Heimkind Unrecht zugefügt. Dies ist aufgrund der damaligen Rahmenbedingungen nachvollziehbar und - da es sich um Kinder handelte - auch entschuldbar.<br /> Nicht zu entschuldigen ist, dass damit einhergehende Versagen der verantwortlichen Erzieher, welche diese Umstände unter den Heimkindern zugelassen und gefördert haben.<br /> <br /> Zur Relativität der Aussage des zitierten Ehemaligen ist von daher zu konstatieren, dass gerade die schwächeren Heimkinder nicht nur von den Erziehern terrorisiert wurden, sondern auch massiv von<br /> den älteren Heimkindern drangsaliert wurden.<br /> <br /> Mithin ist der zitierte Ehemalige aber mittlerweile ein Erwachsener. Gab es vielleicht ein Wort des Bedauern des Unrechtes, welches er vielleicht anderen Heimkindern angetan hat? Wohl nicht!<br /> Stattdessen ist seine zitierte Aussage dahingehend zu interpretieren, dass er seiner "wertvollen" (Macht)Position nach jammert, welche er im System Kinderheim Haus Harderode vielleicht inne hatte.<br /> Demzufolge ist der zitierte Ehemalige offensichtlich unfähig, die damaligen Strukturen des Kinderheimes Haus Harderode selbstkritisch zu durchschauen und vor allen Dingen sachgemäß<br /> wiederzugeben.<br /> <br /> Schlichtweg erschütternd!<br /> <br /> <br />
Antworten

Über Diesen Blog

  • : Heimerziehung der 50er und 60er Jahre am Beispiel Holzen
  • : Dieser Blog behandelt meine mich prägende Heimzeit von 1957 bis 1963, in der ich vielen demütigenden Handlungen und sexuellem Missbrauch ausgesetzt war. Gleichzeitig soll die strukturelle Dimension des Missbrauchs deutlich werden, die weit über die Individualschuld der Pflegerinnen und Fürsorgemädchen hinausgeht. Verantwortlich waren leitende geistliche Personen des Frauenheims, das Landeskirchenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Kontrollbehörden usw.
  • Kontakt

Freitext

Suchen

Lageplan Rübezahl

Holzen, Rübezahl, Lageplan 2 

Archiv

Seiten